„Was für ein Jahr!“ sagte Böttcher, und alle nickten. Sie nickten, weil diese Aussage maximal konsensfähig, ja geradezu banal war. Böttcher hatte kein Adjektiv verwendet, mit dem er die Qualität dieses Jahres hätte zum Ausdruck bringen können. Ein Adjektiv, das seiner Aussage irgendeine Richtung gegeben hätte. Anstrengendes Jahr, hätte er sagen können, wunderbares Jahr, chaotisches Jahr. Was für ein miserables Jahr, ein erfolgreiches Jahr, ein ermüdendes. Er hätte das Jahr als Sowohlalsauchjahr deklarieren können, freudvoll und tragisch zugleich. Aus all diesen Adjektiven hätte Böttcher sich bedienen können. Hat er aber nicht.
Also nickten alle, weil jede und jeder sich in dieser Aussage wiederfinden konnte. Natürlich war es ein Jahr, zweifellos. Wie ließe sich diese Ansammlung von Tagen, Monaten und Jahreszeiten denn sonst beschreiben? In unserer Kultur wird der Zeitabschnitt, der kalendarisch mit dem 1. Januar beginnt und mit dem 31. Dezember endet, üblicherweise als Jahr bezeichnet. Wer also auf die dezembrige Aussage „Was für ein Jahr!“ mit Kopfschütteln reagiert, begibt sich in die Gefahr, von anderen als jemand wahrgenommen zu werden, der das Zeitkonzept nicht durchblickt hat. Gängigerweise wird ja auch ein „Guter Tag“ gewünscht und nicht nur ein Tag. Was würde denn das für einen Sinn machen? Der Tag ist ja ohnehin da. Es gilt, ihn aufzuladen mit guten Wünschen, oder ihn im Nachgang als gelungen oder gebraucht zu verorten.
Hätte Böttcher, wenn er schon kein Adjektiv benutzt, wenigstens durch seine Intonation den Worten Richtung gegeben, freudige Stimme oder begleitender Seufzer, dann wäre das sicherlich für alle Anwesenden auch eine gute Interpretationshilfe gewesen. Manche hätten vielleicht zustimmend genickt, andere gegenteilig verneint. Aber auch in Stimme, Mimik und Gestik war Böttcher erstaunlich neutral. Die Worte blieben frei von Stimmung.
„Was für ein Jahr!“ Sowas wird oft gesagt, wenn irgendetwas Außergewöhnliches geschehen ist, wenn etwas Gutes oder Schlechtes das Jahr besonders gemacht hat. Bei einem normalen Durchschnittsjahr würde der Mensch wohl eine andere Wortwahl bevorzugen, zum Beispiel: „So, wieder ein Jahr um.“ Aber das sagte Böttcher nicht. Vielleicht fühlte er sich auch einfach nicht wohl, hatte möglicherweise das Gefühl, irgendetwas sagen zu müssen, nur um nicht zu schweigen. Vielleicht wollte er durch seine banale Aussage maximale Zustimmung ernten. Vielleicht dachte er auch, damit sei alles gesagt. Vielleicht wusste er auch selbst nichts mit sich, dem Jahr und seinen Worten anzufangen. Alles nicht auszuschließen.
Es fragte aber auch niemand nach, was genau Böttcher damit meinte. Keiner griff den Faden auf, alle nickten nur. Vielleicht waren die Anwesenden einfach kollektiv desinteressiert, und das Nicken war lediglich ein höflicher Akt. Vielleicht wussten sie ja auch, wovon Böttcher sprach. Vielleicht hatten alle ein ähnliches Erlebnis oder kannten Böttcher gut genug, um seine Worte richtig einzuschätzen und in schweigender Komplizenschaft entsprechend zu reagieren. Vielleicht. Wer weiß es schon? In den tiefsten Schichten der Vermutungen hat die gekörnte Wirklichkeit selten eine Chance.
Das einzige, was wir wissen, ist: Böttcher sagte „Was für ein Jahr!“, während der Dezember mit relativer Stille seinem Ende entgegen rückte. Alle nickten, die Zukunft zeigte sich vergleichsweise unbeeindruckt, und das Vergangene ist erst dann vorbei, wenn es im Jetzt keinen Zustand mehr auslöst.